11.10.2002
Was wir immer schon vermuteten, wussten und letztlich am „Leib von Patienten“ erfahren haben, ist nun durch zahlreiche epidemiologische, klinische und experimentelle Untersuchungen bewiesen: Stress ist für die Entstehung und den Verlauf einer KHK ein ebenso relevanter Risikofaktor wie z. B. Zigaretten rauchen und Bewegungsarmut.
Inwieweit psychosoziale Einflüsse Krankheitsbilder wie Bluthochdruck und koronare Herzkrankheit beeinflussen, wird leider auch im Jahre 2003 gerade unter Kardiologen noch sehr kontrovers diskutiert. Da hört man Stimmen wie z. B. „Es gibt keine Studien“. Um es ganz deutlich zu sagen: Das ist falsch. Es gibt eine große Anzahl epidemiologischer Untersuchungen, die sowohl direkte (fehlender sozialer Rückhalt) als auch indirekte Effekte (ärger geht meist einher mit erhöhtem Zigarettenkonsum, wenig Bewegung und ungesunde Ernährung) auf das koronare Risiko belegen. Beispielhaft seien hier nur die so genannte Roseto- und die Alameda-County-Studie genannt. Dass auch der Bluthochdruck mit Verhaltenstherapie und Hypnotherapie (Hildesheimer Gesundheitstraining) zu senken ist, hat eine Studie bewiesen, die durchgeführt wurde von der Fachhochschule Hildesheim und der Universitätsklinik Göttingen. Was für den guten alten Hausarzt also längst zum Erfahrungsschatz gehörte, ist mittlerweile erwiesen und wir sollten zum Wohle des Patienten erkennen, dass psychosoziale Einflüsse –kurz Stress genannt – als ein weiterer koronarer Risikofaktor zu sehen ist. Statt Energie mit Diskussionen zu vergeuden sollten sich vor allem Hausärzte, Internisten und speziell auch Kardiologen daran erinnern, dass ein zentrales Element der Schulmedizin die Fähigkeit ist, neue wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen zu lassen in ärztliches Handeln, sofern sie für die Erkennung, Behandlung und Verhütung von Erkrankungen bedeutsam sind. Heute steht eindeutig fest, dass zentral-nervöse Einflüsse in Form exzessiv bzw. lang andauernd erhöhter Sympathikus- und verringerter Vagusaktivität (Stress) das kardiovaskuläre System funktional und – auf lange Sicht – strukturell zu schädigen vermögen.
Nun haben ja viele Menschen, die aktiv leben auch viel um die Ohren. Wer redet heute nicht von Stress? Die Frage, wann Stress zum gesundheitlichen Problem werden kann, beantwortet Privatdozent Dr. Jochen Jordan, Psychokardiologe am Klinikum der Johann-Wolfang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main folgendermaßen: Hoher und chronischer Stress führen zu gesundheitlichen Problemen. Man erkennt diese an verschiedenen Beschwerden und Symptomen, die alle unspezifisch sind, d. h. sie können auch in einem anderen Zusammenhang stehen. Die wichtigsten dieser Symptome sind deutliche Unruhe, Unfähigkeit zur Entspannung, Schlafstörungen und Schlafdefizit, Kopfschmerzen, diverse andere Beschwerden, die sehr persönlich konfiguriert sein können, erhöhter Genuss von Kaffee, Tabak, Alkohol und anderen Psychosubstanzen, wenig Freizeitverhalten und Rückzug von Freunden. Wir wissen heute, dass sowohl bei aktivem Handeln als auch in Situationen blockierter Aktivität zentral-nervöse Stressachsen aktiviert werden. Dies sind insbesondere die sympathoadrenerge, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- und die hypothalamisch-gonadale Achse. Sind diese Stresssituationen mit Erfolgs-, Kontroll- und Belohnungserfahrungen verbunden, so spricht man gerne von dem so genannten Eustress, das Gegenteil, der Distress, ist eine wiederkehrende, lang andauernde Verausgabung, die mit unsicherem Erfolg, fortgesetzter Bedrohung bzw. Kontrollverlust einher geht. Von ihm gehen eindeutig krankheitswertige Reaktionen auf den Organismus aus, weil die Intensität und Dauer dieser Erregungen nicht angemessen durch gegenregulierende Mechanismen neutralisiert werden können. Letztlich handelt es sich um nichts anderes als um frustrierte Anstrenungen. Der Distress kann zwei pathophysiologische Prozesse im Organismus auslösen:
1. Die in der Person vorhandenen Neigungen zu gesundheitsschädigendem Verhalten können verstärkt werden und tragen damit indirekt zu Erkrankungsrisiken wie dem akuten Myokardinfarkt bei.
2. Jahrelange intensive Aktivierungen des autonomen Nervensystems resultieren in einer Dysregulation metabolischer und kardiovaskulärer Funktionen, wodurch Schädigungen an Gefäßen und Endorganen entstehen wie z. B. Zunahme der Arteriosklerose, Hypertrophie von Gefäßen und Myokard.
Stresssituationen erlebt jeder Mensch, ob er will oder nicht. Manche Menschen scheinen diesen Stress gut wegstecken zu können, andere wieder nicht. Wer nun ist besonders stark stressgefährdet? Dazu Privatdozent Dr. Jochen Jordan: Chronisch Kranke, koronar vorgeschädigte Personen, Personen mit wenig sozialer Unterstützung, Personen mit Mehrfachbelastungen und depressive und ängstliche Menschen. Da unter Stress die oben beschriebenen Stressachsen zu einer vermehrten Hormonausschüttung führen, sind fast alle Organsysteme betroffen, vor allem aber Herz und Kreislauf.
Zum chronischen Distress kommt es vor allem durch Risikosituationen im Erwerbsleben. Hier gibt es zwei Erklärmodelle:
1. Das Anforderungs-Kontroll-Modell. Es geht von der Tatsache aus, dass heute eine große Zahl von Arbeitsplätzen bestimmt wird durch quantitativ hohe psychomentale Anforderungen (z. B. Zeitdruck) bei gleichzeitig geringer Kontrolle über die Arbeitsaufgabe und deren Ergebnis. Je niedriger die berufliche Position, desto häufiger ist diese kritische Kombination zu erwarten wie z. B. bei der klassischen Fließbandarbeit. Mit dieser geringen Kontrolle über Arbeitsinhalte und -prozesse gehen zwei psychologisch folgenreiche Erfahrungen einher: Die Erfahrung geringen Entscheidungsspielraums und die Erfahrung mangelnder bzw. einseitiger Nutzung der persönlichen Fähigkeiten. Stressphysiologisch bedeutsam und damit herz-kreislaufgefährdend sind Arbeitsplätze, die zugleich quantitativ hohe Anforderungen stellen und dabei einen geringen Entscheidungsspielraum gewähren. An diesen Arbeitsplätzen sind vor allem männliche Beschäftigte unterer Sozialschichten gefährdet, einen Herzinfarkt zu erleiden.
2. Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Hier steht im Vordergrund der Gesichtspunkt eines Ungleichgewichts zwischen beruflicher Verausgabung und Belohnung. Hierbei handelt es sich um Berufsgruppen, die sich einerseits jahrelang verausgabt haben und andererseits bescheiden belohnt wurden und kaum oder keine Aufstiegschancen hatten. Als krankmachend wirken hier hohe Verausgabungszwänge unter Bedingungen eines drohenden Arbeitsplatzverlustes oder eines blockierten Aufstiegs, ganz besonders dann, wenn keine Arbeitsplatzalternativen zur Verfügung stehen und die ungünstige Situation in Kauf genommen werden muss, um Schlimmeres zu verhüten.
Zusammenfassend kann aus wissenschaftlicher Sicht, durch zahlreiche Studien bewiesen, gesagt werden, dass chronischer Distress im Erwerbsleben wie er anhand der beiden dargestellten Modelle erfasst wird, einen eigenständigen Risikofaktor der koronaren Herzkrankheit darstellt, dessen quantitative Bedeutung etwa derjenigen der körperlichen Bewegungsarmut oder des Zigarettenkonsums gleich kommt.
Einerseits sind jetzt also die Zusammenhänge zwischen Stress und der Entstehung und dem Verlauf der koronaren Herzkrankheit keine reine Empirie mehr sondern durch wissenschaftliche Studien erwiesen und andererseits wird dieses Wissen wie schon erwähnt Einzug halten in ärztliches Handeln. Dies betrifft zu allererst das anamnestische ärztliche Gespräch mit den Patienten. So werden ärzte auf prognostisch unter Umständen relevante Sachverhalte aufmerksam gemacht, wenn sie nach Distresserfahrungen, ihren Anlässen und ihren Bewältigungsmöglichkeiten fragen. Treten bei diesem Gespräch entsprechende sozioemotionale Erlebnisse und Erfahrungen des Patienten zu Tage, stellt sich die Frage nach der weiteren Behandlung. Entsprechende Medikamente wie z. B. Antidepressiva spielen sicherlich eine Rolle, aber im Vordergrund stehen verhaltens- bzw. psychotherapeutische Verfahren der Stressbewältigung. Liegt bereits eine koronare Herzkrankheit vor, wird sich das weitere Procedere aber auch mit Maßnahmen der sekundären bzw. tertiären Prävention beschäftigen müssen. Die Studienergebnisse müssen aber auch zwangsläufig im Bereich der primären Prävention berücksichtigt werden vor allem im Bereich einer Veränderung von Arbeitsplatzsituationen (= Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention). Hierzu zählen z. B. Maßnahmen wie die Einführung teilautonomer Gruppenarbeit, eine Erhöhung von Kommunikations- und Partizipationschancen, ein verbesserter Informationsfluss und eine Verflachung innerbetrieblicher Hierarchien. Bei strukturellen Maßnahmen geht es zum einen um befriedigendere Regelungen der Lohn-Leistungs-Relation bei entsprechend benachteiligten, d. h. besonders belasteten Beschäftigungsgruppen. Zum anderen wird auch ein Ausbau nicht monetärer Gratifikationen notwendig wie z. B. die Förderung eines innerbetrieblichen „Achtungsmarktes“. Dazu gehören verbesserte Personalentwicklungsmaßnahmen, Honorierung von Betriebstreue und Leistungsqualität durch gewährte Arbeitsplatzsicherheit. Ein Stressabbau geschieht auch durch angemessene inner- und überbetriebliche Fort- und Weiterbildungsangebote. So wird sich vor dem Hintergrund der dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnisse eine optimierte Prävention und Rehabilitation im Bereich der Medizin und damit auch Kardiologie eröffnen.